Wenn die Maschine den Menschen dominiert
Die Dominanz der Technologie
Der klassische soziotechnische Blick auf Arbeit sieht zwei zusammenhängende Subsysteme vor: eine soziale und eine technologische Dimension, die gleich bedeutsam sind. Solche Systeme produzieren sowohl ökonomische Ergebnisse wie bspw. Gewinn, als auch menschliche, wie bspw. Arbeitszufriedenheit und Engagement. Louise Harder Fischer von der IT-University Kopenhagen und Kollegen (2023) argumentieren in einem konzeptionellen Konferenzpapier, dass sich diese klassische, ausbalancierte Perspektive zunehmend verschiebt: Aus soziotechnischen werden technosoziale Systeme, d.h. die technologische Dimension dominiert mit fortschreitender Digitalisierung, insbesondere durch den Einsatz von KI, die soziale Dimension von Arbeit in Organisationen. Zuerst entsteht die digitale Realität, in die dann die menschliche Arbeit hineinkonstruiert wird (wenn überhaupt…). Dies führt dazu, dass die humanen Ergebnisse von Arbeit in den Hintergrund gedrängt werden, weil technische Systeme heute weitgehende auf die Maximierung des ökonomischen Outcomes optimiert sind.
Fünf Problemfelder
Einst genuin menschliche Fähigkeit wie Lernen, Denken, Reflexion und autonomes Handeln werden zunehmend von digitaler Technologie beeinflusst. Auch Management (insbesondere die Entscheidungsfindung), das sich traditionell insbesondere auf menschliche Erfahrung und Führungskompetenzen stützt, wird zunehmend durch KI konditioniert. Die Autoren machen diese ontologische Umkehr hin zu technosozialen Systemen anhand der folgenden Analysefeldern deutlich:
1. Gemeinsame Optimierung als Basis: Menschliche Individuen sollten als zur Maschine komplementär betrachtet werden, anstatt als deren bloße Verlängerung. Bei der Gestaltung digitalisierter Produktionsumgebungen sollte daher von vorneherein ein „duales Design“ angestrebt werden, bei dem nicht einseitig der für Maschinen optimierte Prozess dominiert. Es sollte prinzipiell möglich sein, ökonomische und menschliche Outcomes bei der Organisationsgestaltung gleichzeitig zu berücksichtigen. Diese Perspektive (oder Grundhaltung) bildet die Grundlage dafür, dass die folgenden vier Problemfelder zukunftsfähig gelöst werden können.
2. Anpassungsfähigkeit und Agilität: Zunehmend autonome und für Menschen undurchsichtige IT-Systeme schränken die Varietät der Arbeit in Organisationen ein. Es sind nicht mehr die Menschen, die organisationales Lernen vorantreiben, sondern lernende Algorithmen. Der verbleibende menschliche Mehrwert in Arbeitsprozessen ist immer weniger klar, genau wie die damit einhergehenden kreativen Freiräume.
3. Verantwortungsvolle Autonomie: Die rasant zunehmende Leistungsfähigkeit von KI bei der Verarbeitung großer Mengen heterogener Daten führt dazu, dass Menschen in für sie undurchsichtige „invisible cages“ (Rahman 2021) gedrängt werden, in denen sie einen Kontrollverlust erleiden. Maschinell vorbereitet menschliche Entscheidungen werden immer mehr zur Auswahl aus maschinell generierten Alternativen und münden schließlich in gänzlich automatisch getroffene Entscheidung. Diese Entmündigung führt – nach allem, was wir heute wissen – zu einem Verlust von Arbeitszufriedenheit. Es ist mithin unwahrscheinlich, dass die so erzielten Effizienzgewinne nachhaltig sind.
4. Ganzheitlichkeit: In digitalisierten Arbeitsprozessen emergieren Ziele und Prozessverbesserungen eher aus den Daten, als dass sie planerisch deduziert werden. Menschen werden daher zunehmend mit unerwarteten, als „eklektisch“ empfunden Aufgaben konfrontiert, was dazu führen kann, dass Menschen das Gefühl verlieren, an einem „großen Ganzen“ mitzuwirken. Die Data Lakes, aus denen sich die Algorithmen speisen, sollten daher möglichst umfassend und facettenreich sein, um eine möglichst ganzheitliche Basis für Daten-Ambidextrie zu schaffen.
5. Sinnvolle Arbeit: Wenn das Management einer Organisation den (kurzfristigen) ökonomischen Outcome einseitig optimiert, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass KI-Systeme die am Arbeitsprozess beteiligten Menschen entmündigen. D.h. Entscheidungsspielräume werden eingeschränkt, Lernmöglichkeiten genommen, Entwicklungsperspektiven zerstört, Kompetenzen unterdrückt etc. Um die eigene langfristige Wettbewerbsfähigkeit nicht zu gefährden, sollte Management dieser Tendenz der technosozialen Degenerierung Elemente der Sinnstiftung entgegensetzen.
Worüber wir nachdenken sollten
Was lässt sich tun, um dieser zunehmenden „Dehumanisierung“ von Organisationen entgegenzuwirken? Diese Frage ist weder pauschal noch einfach zu beantworten, auch weil es sich um ein „moving target“ handelt. Die Autoren schlagen deshalb vier relativ generische, theoretisch plausible, normative „technosoziale Prinzipien“ vor:
1. Kontinuierliches Lernen: Menschliches Lernen und Erfahrung sind auch weiterhin grundlegend für Organisationen, um angemessen agieren zu können, sowohl auf der individuellen als auch auf der organisationalen Ebene.
2. Hinreichende Varietät: Einerseits nimmt die Vielfalt der Arbeitsaufgaben ab, andererseits nehmen Menschen die Arbeit in zunehmend automatisierten Prozessen als immer komplexer wahr. Es gilt eine passende Balance zwischen der notwendigen Arbeitsvarietät für Kompetenzentwicklung und menschliches Wachstum einerseits und der Varietätsreduktion zur Vermeidung überfordernder nicht-automatisierter Arbeit andererseits zu finden.
3. Ganzheitliche Workflows: Ein breiter und einheitlicher Zugang zum Data Lake ermöglicht zweckmäßige menschliche Beiträge und die Widerherstellung eines Gefühls von Ganheitlichkeit.
4. Sinnvolle Arbeit: Auch in der neuen technosozialen „digital first“ Realität muss Arbeit ein Gefühl der Erfüllung und Zweckmäßigkeit vermitteln. Andernfalls leidet das menschliche Wohlergehen in Organisationen.
Den Glauben nicht verlieren
Diese „Prinzipien“ lassen aus einer management-praktischen Perspektive keine direkt umsetzbaren Schlüsse zu. Dennoch mögen sie als Denkanstöße oder Hinweise und als Startpunkt für eigene Lösungen dienen. Mir hat der Konferenzbeitrag jedenfalls einen neuen Blick auf ein mögliches Kernproblem der durch KI angetriebenen „Hyperdigitalisierung“ eröffnet, das eigentlich immer schon eine zentrale Frage war: Wie viel langfristige Wettbewerbsfähigkeit opfern wir dem kurzfristigen ökonomischen Erfolg? In diesem Fall wird der kurzfristige ökonomische Erfolg dadurch erhöht, dass die Möglichkeiten der KI möglichst vollständig und rasch ausgeschöpft werden. Die langfristige Wettbewerbsfähigkeit leidet dann aber unter den menschlichen Kollateralschäden, die dadurch entstehen. Diese Einsicht basiert freilich auf dem Glauben daran, dass es überhaupt ein „menschliches Residuum“ gibt, also daran, dass es letztlich immer der Mensch ist, der einen positiven Unterschied macht, wenn bei der KI-Nutzung Waffengleichheit herrscht. Wir müssen es glauben, denn wissen können wir es nicht. Geben wir diesen Glauben auf, fallen wir nicht nur zurück in die dunkelsten Zeiten der frühen Industrialisierung, sondern verdrängen den Menschen womöglich ganz aus arbeitsteiligen Prozessen. Klingt doch wie eine Verheißung, oder…?
Literatur:
Harder Fischer, L., Wunderlich, N. & Baskerville, R. (2023): Artificial Intelligence and Digital Work: The Sociotechnical Reversal. Proceedings of the 56th Hawaii International Conference on System Sciences: 226-235.
Rahman, H. A. (2021). The Invisible Cage: Workers’ Reactivity to Opaque Algorithmic Evaluations. Administrative Science Quarterly 66(4): 945-988.